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Liebster Rückzugsort, um die Gedanken schweifen zu lassen: Höttinger Bild

Es gibt Plätze, die werden zu einem Wohlfühlort, die lösen ein heimeliges Gefühl aus und entspannen den Geist. Seit ich in der Stadt wohne, habe ich mich nach solchen Plätzen, die ich am Land schon immer hatte, gesehnt und nach ein paar Monaten einen gefunden. Warum es sehr schön sein kann, Gefühle und Rituale mit Orten zu verbinden und weshalb dieser Rückzugsort für mich so wichtig geworden ist, möchte ich euch hier erzählen.

 

Damals, im Jahr 1675...

Vom Höttinger Bild hatte ich schon oft gehört, bis vor kurzem wusste ich jedoch nicht, dass sich hinter dem Namen eine Wallfahrtskapelle verbirgt, die seit jeher als traditioneller Pilgerort für Studierende gilt. Der Legende nach brachte im 17. Jahrhundert ein junger Student ein Muttergottesbild zu dieser Waldlichtung und bat um Erfolg für seine Prüfungen, viele Studenten machten es ihm nach und wenig später wurde dort eine kleine Holzkapelle errichtet. Inzwischen steht seit fast 250 Jahren eine gemauerte Wallfahrtskapelle an derselben Stelle, die über mehrere Wege von Innsbruck aus erreicht werden kann.


Lieblingsrunde für Körper und Geist.

Für mich hat das Höttinger Bild keinerlei religiöse Bedeutung, aber der Weg über Hötting und später durch den Wald bis zu dieser Lichtung hat sich zu einer Art Therapie entwickelt. Von meiner Wohnung aus brauche ich zirka 40 Minuten bis zur Kapelle, hin und zurück dauert der Spaziergang ein bisschen mehr als eine Stunde. Inzwischen gibt es kaum eine Woche, in der ich diesen schönen Weg nicht gegangen bin. Ich mag, dass er für die Nordkette verhältnismäßig sehr ruhig und vor allem vormittags menschenleer ist. Die Strecke ist quasi bei jedem Wetter gehbar und am meisten genieße ich, dass ich praktisch eine Runde drehen kann und nicht den gleichen Weg zurückgehen muss. Als eine, die Gewohnheiten und Routinen sehr schätzt, gehe ich immer (!) über die Planötzenhofstraße und den Waldweg hinauf und auch immer über die Straße und danach über den Schießstand wieder hinunter.

Nun, es gibt viele schöne Wege in und um Innsbruck, aber für mich hat diese Runde an Bedeutung gewonnen, weil meine Gedanken so gut schweifen können und ich mit jedem Schritt spüre, wie ich ruhiger werde. Da der Aufstieg recht steil und anstrengend ist, kann ich gut Dampf ablassen, meine Gedanken sortieren, Szenarien durchspielen und über Vergangenes nachdenken. Hin und wieder kommen schon im Wald die ersten Tränen, manchmal dann erst bei der Waldlichtung, eher seltener bleiben sie ganz aus. Wirklich jedesmal hingegen verändert sich meine Stimmung, sobald ich mich auf den Rückweg mache, fast so, als ob ich die ganze Last nach oben geschleppt und abgelegt hätte. Bis vor kurzem war mir gar nicht so bewusst, was für eine kathartische Wirkung diese Runde auf mich hat, wenn ich schlechte Tage habe, sehne ich mich richtig nach meinem Waldweg.



Die Gedanken sind frei.

Das Schöne daran ist, dass ich mit meinen Emotionen nicht zuhause sitzen muss und das Eigenheim, das während dieser Pandemie sowieso überstrapaziert wird, nicht mit mehr negativen Gefühlen und Erinnerungen behaftet wird. Zuhause kann ich mich konzentrieren und meinen Arbeiten nachgehen, sobald ich das Haus verlasse und spazieren gehe, dürfen die Gedanken schweifen, ich darf mich um meine Probleme kümmern und mich mit den nicht so schönen Aspekten meines Lebens beschäftigen. Sobald ich nach Hause komme, haben wieder andere Themen und Aktivitäten Vorrang, fast wirklich so, also würde ich nach einer Therapiesitzung wieder daheim ankommen.

Ich glaube, dass wir uns viel zu wenig Raum geben, um uns bewusst mit den Dingen, die uns beschäftigen, auseinanderzusetzen. Zu wenig Raum und zu wenig Zeit, beides müssen wir uns intentional schaffen, warum also nicht ein Ritual daraus machen? Mein Weg aufs Höttinger Bild fühlt sich wie ein ewig langes Einatmen an, alle Gedanken und alle Gefühle dürfen rein, bekommen Platz und Gehör, oben angekommen, darf ich ausatmen, alles ablegen, die Perspektive wechseln und beim Abstieg wohlwollend auf alles zurückblicken. Orte, die sich nach Freiheit und nach Ehrlichkeit anfühlen sind etwas Besonderes. Viele dunkle Gedanken, viel Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, viele Tränen und viel Kummer habe ich schon zu dieser Waldlichtung getragen, jedesmal hat es sich gelohnt und ich bin ein Stückchen leichter zurückgekehrt.

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