Habt ihr meinen letzten Beitrag gelesen? Wenn ja, dann hoffe ich, dass meine Euphorie spürbar war. Ich hab mich nicht nur mit den größten Plänen vom alten Jahr verabschiedet sondern auch mit einer ordentlichen Portion Selbstbewusstsein, mit einem schönen Zufriedenheitsgefühl und vor allem voller Zuversicht hinsichtlich dessen, was die Zukunft bringen mag. Glücklich, stark, motiviert und ausgeglichen – so wollte ich auch ins neue Jahr starten. Aber einmal mehr ist das Leben dazwischengekommen und hat mich in die Ecke zum Schmollen verwiesen. Es ist und bleibt eine Achterbahnfahrt.
Und plötzlich ist alles anders.
Ich war bis jetzt in der glücklichen Lage, dass ich, meine Familie und engsten Freund:innen von Schicksalsschlägen verschont geblieben sind. Natürlich haben die einen oder anderen hin und wieder eine Krise, in den letzten Jahren hatte ich auch mit viel zu kämpfen, aber alles in allem war alles zu bewältigen und nichts existenziell bedrohlich. Ich weiß, dass das keine Selbstverständlichkeit ist, aber ich hab mich sehr sicher und wohl gefühlt in dieser heilen Welt, in denen es allen gut geht.
Kurz vor Weihnachten ist die Mutter einer meiner besten Freundinnen verstorben, nachdem sie jahrelang mit Krebs gekämpft hatte. Bis zuletzt war ich mir sicher, dass sie diese Krankheit überstehen würde, dass meine Freundin dieser Verlust nicht treffen würde. Wir sind zusammen aufgewachsen, Zaun an Zaun, seit mehr als 30 Jahren begleiten wir einander durchs Leben. In den letzten Jahren hat sich viel verändert, sie hat geheiratet und zwei wunderschöne Mädchen bekommen, hat sich um ihre Mama gekümmert und war am Land, während ich mit einer Trennung zu kämpfen hatte und in der Stadt bleiben wollte. Wir leben einen anderen Alltag und trotzdem sind wir gleich, egal was kommt, sie wird immer meine älteste Freundin sein, mit der ich ohne nachzudenken über alles reden kann. Und von einem auf den anderen Tag war ihre Mama tot, hätte auch meine sein können, war es aber nicht – willkürlich, einfach so.
Einen Tag nach dem Begräbnis und kurz vor Silvester musste ich meinen leiblichen Vater im Krankenhaus abholen, er wusste nicht mehr, wie er nach Hause kam. Seit einiger Zeit schon fällt mir auf, dass er sich öfters wiederholt, hin und wieder etwas vergisst und mit der Zeit und den Tagen zu kämpfen hat. Er ist über 70 und ältere Menschen vergessen eben hin und wieder etwas, aber der Mann, den ich im Krankenhaus antraf, war nicht ein wenig vergesslich, er war stark verwirrt und optisch verwahrlost. Zuhause bei ihm angekommen, hab ich das Ausmaß der Situation und seiner Überforderung in seiner Wohnung gesehen, Berge an Müll, Dreck und verpackten Kartons. Über zwei Jahre war ich nicht mehr dort gewesen, er hatte es nie besonders sauber und ordentlich, aber diese Wohnung war in einem Zustand, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Ich hab ihn ins Bett gebracht und den ganzen Weg nach Hause geweint.
Mein Vater hatte einen Demenzschub, so etwas passiert, ohne Vorwarnung und ohne Aussicht auf Heilung. Er ist nicht mehr der Alte und das wird er auch nie wieder sein. Seit ich eine Teenagerin war, sehen wir uns nur noch sporadisch und hatten auch seitdem nicht wirklich ein enges Verhältnis, aber er war immer da, wenn ich ihn eingeladen hatte, wir haben mehr oder weniger regelmäßig telefoniert und er konnte das, was ich ihm erzählte, verstehen und sich merken. Ich hab das als selbstverständlich angesehen und dass es jetzt nicht mehr so ist, hat mich mit einer Härte getroffen, die ich nicht für möglich gehalten hatte.
2023…ein etwas anderer Jahresbeginn.
Die erste Woche des neuen Jahres hab ich zusammen mit meiner Tante und meinem Onkel in der Wohnung meines Vaters geputzt, ich hab ihn gebadet, bin mit ihm zum Zahnarzt gegangen und hab Termine bei der Fußpflege, in der Gedächtnisambulanz und bei der Hausärztin übernommen. Ich hab eine Erwachsenenvertretung beantragt, wir hatten einen Termin bei der Volkshilfe für Pflegestunden und ich hab ein neues seniorenfreundliches Telefon für ihn besorgt. Er lässt alles über sich ergehen, manchmal mehr manchmal weniger widerwillig, die Fragen und Antworten sind immer die gleichen und man muss ihm die Dinge wieder wie einem Kind erklären. Sein Langzeitgedächtnis ist in Ordnung, Abläufe im Jetzt und Gespräche fallen ihm schwer.
Ich hab in dieser ersten Wochen des Jahres viel geweint. Es war immer der gleiche Ablauf: Bei Papa aufräumen, heimkommen, spazieren gehen und weinen. Die Gefühle sind gemischt, er tut mir unendlich leid, dass diese Krankheit ihn verschwinden lässt und dass er mit Demenz zu kämpfen hat, ich bin wütend, weil er seit Jahren wenig auf sich achtet und viel zu viel Alkohol trinkt, was natürlich absolut kontraproduktiv ist und ich schäme mich, weil ich nicht früher etwas unternommen habe, weil mir nicht früher aufgefallen ist, wie schlecht es ihm schon geht. Zu Mitleid, Wut und Scham kommt noch eine unbeschreibliche Einsamkeit. Ich bin alleine mit diesen Gefühlen und alleine mit der Last, das übernehmen zu müssen. Mein Bruder hat einen anderen Vater und meine Mama einen neuen Mann, es gibt „wie geht’s dir“-Fragen, aber beschäftigen will sich aus der Familie niemand damit, Onkel und Tante sind eine Stütze bei den Aufgaben, aber meine Gefühle und inneren Kämpfe haben dort auch keinen Platz.
Weinen & Wellness.
Aber ich bin zum Glück Teil einer Generation, die inzwischen auch über schwere und unangenehme Gefühle sprechen kann und nicht alles mit einem Lächeln unter den Teppich kehren möchte. Bei meinen Freund:innen kann ich weinen und zugeben, dass ich endlos überfordert bin, dass der Tinnitus wieder lauter ist, dass ich mich im Stich gelassen fühle und in Selbstmitleid versinke, weil ich mich mit der Krankheit eines Vaters auseinandersetzen muss, der nicht wirklich eine Vaterfigur war. Reden, reden, reden…ich erzähle meiner Therapeutin jede Woche das Gleiche und jedesmal fühlt es sich schon ein bisschen leichter an.
Außerdem hab ich mir eine Auszeit gegeben von jeglicher Verpflichtung, ich muss weder Flöte üben, noch Sport machen, noch Aufgaben erledigen, die auch in drei Wochen noch möglich sind. Ich versuche viel zu schlafen, gut zu essen und jeden Tag spazieren zu gehen, gönne mir jede Serie, die Netflix durch meinen Bildschirm strahlt, unterstütze mein Dopaminlevel mit ausreichend Eiscreme, Schokolade und Katzenvideos und ich weine praktisch täglich unter der Dusche. Ich stell mir vor, dass die Trauer und der Druck mit den Tränen und dem Wasser weggespült werden.
Im Moment hab ich auch sehr damit zu kämpfen, meine Grenzen aufrechtzuerhalten und mich selbst zu schützen. In Zeiten, in denen das Nervenkostüm dünner wird, fällt es mir schwer, meine Bedürfnisse zu spüren und zu verhindern, dass das, was andere für richtig halten, mich überschwemmt. Ich bin eher in Versuchung, in alte Muster zu fallen, mich an alten Beziehungen festzuhalten und in eine melancholische Gesamtstimmung zu geraten. Es ist Schwerstarbeit, so viel kann ich verraten, aber es wird leichter und leichter.
Ja, ich hatte mir den Jahresanfang anders vorgestellt und ja, ich muss es eh so hinnehmen wie es gekommen ist. Diese letzten Wochen waren ein kleiner aber sehr lauter Weckruf, dass dieses schöne Leben keine Selbstverständlichkeit ist, dass wir alle sehr zerbrechlich und vergänglich sind und dass es sich lohnt, einen kritischen Blick auf die Gesamtsituation zu werfen und zu evaluieren, ob wir glücklich mit dem Hier und Jetzt sind.
Ich bin seit gut einer Woche krank, nachdem ich durchgepowert habe und stark war für andere, hat mein Körper die Notbremse gezogen: Ohrenschmerzen, Husten, Fieber. Sowas ist gemein, ich liege praktisch den ganzen Tag auf der Couch und kann mir noch mehr den Kopf zerbrechen, als ich das ohnehin schon tue. Aber es ist auch eine Gelegenheit, die Dinge zu verarbeiten und setzen zu lassen. Natürlich schleichen sich auch altbekannte Ängste wieder ein, dann gilt es, sich abzulenken. Meine Wohnung glänzt, meine Nägel sind bunt wie nie und nach Monaten (vl sogar Jahren) hab ich endlich die große Vase von Steinen und Wachs befreit und mit einer neuen Kerze geschmückt. It’s the little things. <3
Meine Eltern leben auch getrennt, mein Papa auch plötzlich dement... Ich bin auch in den 30igern und kann mich auf deinem Blog "wiederfinden", obwohl ich vom anderen Geschlecht bin 🤭 Zu gerne würde ich mit dir einmal auf einen Cappuccino gehen...